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Aus Perlen baut sich eine Brücke 
Anmerkungen zum Weltausstellungs-Thema

Essay

Dr. Gerhard Feltl

Lead-In 
Immer vehementer wird eine grundsätzliche Darstellung von Sinn und Zweck der Weltausstellung 1995 gefordert: Planer, Architekten, Tourismus-Veranstalter und Marketing-Leute, aber auch prospektive Aussteller und Sponsoren wollen ihre fachspezifischen Überlegungen auf eine schlüssige Formel dessen gründen, was die Proponenten mit der Weltausstellung und dem Weltausstellungs-Thema "Brücken in die Zukunft" im Sinne haben.

Nach intensiven Diskussionen und nationalen wie internationalen Studien haben sich Wien und Budapest für das Weltausstellungsthema "Brücken in die Zukunft" entschieden. 

Brücken, wie sie in den beiden Städten im Laufe der Zeit über die Donau geschlagen wurden, führen über das andere Ufer hinaus, sind Symbole für die vielfältigen Möglichkeiten zur Darstellung schöpferischer, der Verantwortung für die Zukunft bewußter Ideen an den Ufern der uralten Verbindung Donau. 

Das Thema "Brücken in die Zukunft" ist ein Thema, das in den Traditionen Österreichs und Ungarns tief verwurzelt ist. Darüber hinaus knüpft es an das Thema der Weltausstellung 1992 von Sevilla ("Zeitalter der Entdeckungen") an und soll auch Entdeckungsreisen in das dritte Jahrtausend führen. Das Thema soll Gelegenheit geben aufzuzeigen, daß die Menschen durch die Überwindung ihrer Gegensätze in die Lage versetzt werden können, die neuen Herausforderungen zu bestehen. 

Im Rahmen dieser Darstellung sollen fragmentarisch jene drei Assoziationsfelder (Anmerkungen zur Geschichte des Brückenbaues; die Brücke als religiöser Symbolträger; die Brücke als künstlerische Metapher) beschrieben werden, die der Auswahl des Brückenthemas zugrundegelegt wurden. 

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Das Thema "Brücke" fasziniert zunächst durch die technischen Leistungen, die seit den antiken Hochkulturen bei der Überwindung von topographischen Hindernissen durch Architekten, Ingenieure und Bauleute erbracht wurden. Einfache Brückenkonstruktionen konnten bis weit in die Vorgeschichte nachgewiesen werden. Dazu zählen im europäischen Raum etwa die Steinbalken-Brücke und die Steinpfeiler-Brücke in der Nähe von Postbridge im englischen Devonshire. Als Ursprungsland der Hängebrücke gilt Tibet, aber auch aus dem Hindukusch (was so viel bedeutet wie "hängende Übergänge") wird schon vor unserer Zeitrechnung über Seilbrücken berichtet: Zuerst wurde ein dünnes Seil über die Himalaya-Schluchten geschossen, an dem starke Pflanzenseile nachgezogen wurden, um schwankende Stege zu errichten. Dasselbe gilt für die Inkas, die um 1350 nach Christus den Apuriac-Canyon mit einer 45-Meter langen Hanfseilbrücke überspannten, die sogar von Roß und Reiter passiert werden konnte. 

Viel früher gab es bereits feste Brückenbauwerke in Mesopotamien, darunter die 126-Meter lange Euphrat-Brücke aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Darius ließ den Bosporus, Xerxes 480 vor Christus die Dardanellen durch eine aus 700 Fahrzeugen in zwei Reihen bestehende Schiffsbrücke überspannen. 

Die Kunst des Brückenbaues wurde von den Römern perfektioniert – man denke an die Milvische Brücke (an deren sieben Bögen Konstantin seinen Gegenspieler Maxentius besiegte), an die spektakulären Rheinbrücken Caesars oder an die berühmte Trajansbrücke: "pontem perpetui mansuram in saecula", ließ der Pontifex Maximus auf ihr einmeißeln. In dieser Terminologie spiegelt sich die kultische Bedeutung der Brücke als Verbindung zum Jenseits (der Ehrentitel Pontifex Maximus wurde ursprünglich für den Römischen Kaiser, seit der Renaissance für die Päpste verwendet). 

Die römischen Brücken sind durch ihre Bogen- und Keilsteintechnik zum Prototyp der Brücke schlechthin geworden. Diese Technik wurde im Mittelalter weitergeführt. Berühmte Beispiele dafür sind die Brücke von Avignon, die Prager Karlsbrücke, die sagenumrankte Regensburger Brücke, die London Bridge (die dicht mit mehrstöckigen Häusern besiedelt war), die Ponte Vecchio in Florenz oder die Rialtobrücke in Venedig. 

Im vorigen Jahrhundert erfolgte – so Charlotte Jureka in ihrem Standardwerk "Brücken" – der Übergang vom empirischen zum technischen Brückenbau. Die Entwicklung der Eisenbahn erforderte zahllose neue Brückenkonstruktionen: Eisenbrücken, schmiedeeiserne Balkenbrücken, Stahlkonstruktionen, Spannbeton-Brücken und Schrägseilbrücken. 

Die Geschichte des Brückenbaues ist nicht frei von Katastrophen. Am bekanntesten ist wohl der Einsturz der Eisenbahnbrücke über den Firth of Tay am 28. Dezember 1879, dem Theodor Fontane ein literarisches Denkmal gesetzt hat: Während man ursprünglich einen Wintersturm mit Spitzenböen von 144 km/h für den Einsturz der drei Kilometer langen Eisenbrücke verantwortlich gemacht hatte, ergaben erst 1976 veröffentlichte Untersuchungen, daß Gewinnsucht, Fahrlässigkeit und schwere Material- und Konstruktionsfehler das Unglück verursacht und den Tod von rund 200 Passagieren herbeigeführt hatte. 

Obwohl diese Katastrophe zur Revision aller Konstruktionspläne und Prüfungsverfahren geführt hatte, kam es 60 Jahre später wieder zu einem Brückenunglück: die Tacoma-Norrows-Bridge (mit einer Spannweite von 855 m die fünflängste Brücke der USA) wurde am 7. November 1940 vom Wind so aufgeschaukelt, daß sei einstürzte. Und am 1. August 1976 versank die Wiener Reichsbrücke in den Fluten der Donau. 

Einen frühen Gedanken zur Brücke als wirtschaftlich-sozialen Faktor und als transitorisches Versatzstück findet man in den theoretischen Schriften des Architekten Leon Battista Alberti (1404 – 72): "Die Brücke ist hauptsächlich ein Teil der Straße ... und soll im Mittelpunkt einer Gegend für den Gebrauch der Allgemeinheit offen stehen." 

Doch weit über die technischen Leistungen, über das wuchtige oder elegante Überspannen von Flüssen und Meerengen, von Schluchten und Tälern hinaus, ist "Brücke" als Begriff ein Symbolträger mit vielfältiger Bedeutung. 

Etymologisch kommen "Brücke" und "Bridge" vom althochdeutschen pruccha (das auch mit "Pritsche" und "Prügel" in Zusammenhang gebracht werden kann). Im romanischen Sprachraum ist das lateinische pons die Wurzel, die auf Sankrit patha/panthan zurückgehen dürfte. 

Die deutschen Wörter Brücke und Bruck kommen in zahllosen Ortsnamen vor – von Brügge und Osnabrück bis Brückl und Steinabrückl, von Innsbruck bis Bruck an der Leitha. Bridge lesen wir etwa im englischen Cambridge, und das Slawische "most" finden wir in Mostar, der Stadt mit der türkischen Brücke in der Herzegowina. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. 

Doch während der Begriff "Brücke" in den Ortsnamen weiterlebt, verlor er in den Sprichwörtern an Bedeutung. Man sagt zwar noch, man wolle jemandem "eine goldene Brücke bauen" oder habe "alle Brücken hinter sich abgebrochen". In Vergessenheit geraten sind jedoch Formulierungen wie "jemandem die Brücke treten" (den Weg bahnen), "über die Brücke möchte ich nicht gehen" (um seine Skepsis auszudrücken) oder "wenn das Wort eine Brücke wäre" (als Hinweis darauf, daß man einer Aussage nicht traut). 

Der Verlust dieser Redensarten deutet darauf hin, daß die in die Stadtarchitektur des Mittelalters integrierte Brücke ihre dominante Bedeutung (vor allem auch ihre Schutzfunktion in Form der Zugbrücke) verloren hat. 

Dennoch ist der Begriff "Brücke" im kollektiven Unterbewußtsein tief verwurzelt: Als zentraler, neuralgischer Punkt (mit Hoffnungen, aber auch dem Bewußtsein um Gefahren und Gefährdungen), an dem Entscheidungen im menschlichen Schicksal fallen. 

Mythologisch gesehen ist die Brücke der Ort des Übergangs von einem Lebenszustand in einen anderen: 

Im persischen Mythos gehen die Verstorbenen über eine Brücke ins Lichtreich. Im Islam ist diese Brücke "schmäler als ein Haar und schärfer als eine Schwertklinge", sodaß die Verdammten abstürzen und die Auserwählten (je nach ihren Verdiensten) rascher oder langsamer ins Paradies gelangen. Nach alter finnischer Vorstellung führt eine nur aus einem Faden bestehende Brücke über den Todesfluß. 

Häufiges Symbol der Verbindung zwischen Himmel und Herde ist die "Himmelsbrücke" – der Regenbogen: den Indianern war er "Leiter zur anderen Welt". In der Edda wird der Regenbogen zur Himmelsbrücke, deren Betreten alleine den Aasen, den Angehörigen des Göttergeschlechtes, vorbehalten ist. 

Im Buddhismus symbolisiert der Regenbogen die höchste Stufe, die der Mensch im Samsara, in der Wanderung durch die Wiedergeburten, erreichen kann, bevor er das "klare, helle Licht" des Nirwana erlangt. Der Regenbogen ist somit Transfigurations-Symbol, er bildet die Brücke zum Paradies, aber auch den Thron des Himmelsgottes. 

Den nomadisierenden Wüstenvölkern war das Bild der Brücke nicht vertraut – sehr wohl kennt aber auch die Bibel den Regenbogen: Nach der Sintflut setzt Gott zum Zeichen seines Bundes mit den Menschen den Regenbogen an das Firmament (1 Mos 9, 12 – 16). Und wenn der Prophet Ezechiel Gottes Herrlichkeit erschaut, ist die Erscheinung von einem strahlenden Regenbogen umgeben (Ez. 1, 28). 

Im deutschen Volksglauben werden – nach Deutung der Gebrüder Grimm – die Seelen der Gerechten von ihren Schutzengeln über einen Regenbogen in den Himmel geführt. Im mittelalterlichen Darstellungen trifft man auf Bilder, die Christus als Weltenrichter auf einem Regenbogen zeigen. Und im "Ring des Nibelungen" zieht sich "mit blendendem Leuchten eine Regenbogenbrücke über das Tal hin bis zur Burg". 

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Es ist die übertragene Bedeutung (das Überwinden von Gegensätzen, die Annäherung, das Herausarbeiten einer Synthese als neue und zusätzliche Option), die den Brückenbegriff heute mitbestimmt: 

Die Exponiertheit beim Überqueren einer Brücke, das Spannungsverhältnis zwischen dem Erreichen des ersehnten Zieles und der in der Tiefe drohenden Gefahr wird so zum Stimulans, existentielle Verstrickungen zu beschreiben. Damit kommen wir zum dritten Bezugspunkt: die Brücke als künstlerische Metapher. 

Als Ausgangspunkt der literarischen Behandlung des Brückenmotives im militärischen Sinn mag das Volkslied von Prinz Eugen gelten, das die Belagerung der Festung Belgrad besingt; die Entstehungsgeschichte dieses Liedes beschreibt Ferdinand Freiligrath in einer Ballade. Ein anderes prominentes Beispiel (zugleich Bild für die Sinnlosigkeit des Krieges) ist Heinrich Bölls frühe Erzählung "Wo warst Du, Adam?" in der – je nach wechselnden militärischen Erfordernissen – eine Brücke gebaut und wieder gesprengt wird. 

Thornton Wilder's Novelle "Brücke von San Luis Rey" verknüpft eine Reihe von Menschenleben, die nichts miteinander verbindet – außer ihr Tod bei einem Brückeneinsturz. 

Abschied und Wiedersehen – nirgends läßt sich dieses symbolträchtiger (und melodramatischer) inszenieren als auf einer Brücke. Nicht nur die Literatur, auch die Filmgeschichte ist sich dieser Dramatik bewußt: Eine Analyse über das Filmschaffen in verschiedenen Ländern erbrachte eine Liste von 150 Filmen, in denen eine Brücke effektvoll als Kulminationspunkt der Handlung eingesetzt wird. In der Regel handelt es sich dabei um Kriegsfilme oder um Anti-Kriegsfilme, in denen die Brücke als Verbindung zum angestrebten Ziel umkämpfter Brennpunkt des Geschehens wird: "Die Brücke am Kwai", "Die letzte Brücke", "Die Brücke von Arnheim", nicht zuletzt Bernhard Wickis Antikriegsfilm "Die Brücke" oder "Cry Freedom" von Richard Attenborough sind prominente Beispiele dafür. 

1995 ist ein denkwürdiges Jahr für Cineasten: Der Firm wird 100 Jahre alt, und es ist geplant, im Rahmen einer großen Retrospektive Entwicklung und Bedeutung des Filmes als eines der Leitmedien unseres Jahrhunderts, aber auch die Bezugnahme zur Brücken-Thematik der Weltausstellung umfassend darzustellen. 

Die genannten Beispiele zeigen, daß "Brücken" sehr wohl auch das Prekäre, Unsichere, Bedrohliche innewohnt – wie dies nicht zuletzt in den Bildern von Edvard Munch zum Ausdruck kommt. Zahlreiche seiner Werke stellen Menschen auf Brücken dar, als wohl berühmtestes "Der Schrei". 

Edvard Munch mag aber auch Anreger dafür gewesen sein, daß sich 1905 in Dresden eine Malergruppe zusammenfand, die sich "Brücke" nannte. Neben Emil Nolde gehörte ihnen auch Karl Schmitt-Rottluff an, der den Namen ("Brücke ist ein vielschichtiges Wort, bedeutet zwar kein Programm, führt aber gewissermaßen von einem Ufer zum anderen") vorgeschlagen hatte. 

Der Gedanke des "Brückenschlages" dominiert die Themen-Entscheidung für die geplante Weltausstellung in Wien und Budapest: "Brücken" sollen schließlich Ost und West, Orient und Okzident, Wirtschaft und Kultur, die Natur mit der Technik, sowie das Gestern mit dem Morgen verbinden. Verbinden und Versöhnen sind ja Grundelemente des österreichischen Selbstverständnisses. Das menschliche Maß soll dabei dem technischen Ausmaß, der geistige Auftritt dem materiellen Aufwand ebenbürtig sein und jenen Wertewandel sichtbar machen, den unsere Jugend fühlt und fordert und der die Menschheit in das nächste Jahrtausend begleiten wird. 

Von Schillers rätselhaftem Gedicht "Aus Perlen baut sich eine Brücke hoch über einen grauen See" bis zu Simon and Garfunkel's "Bridge over Troubled Water" sind in Literatur, Malerei, Film und Musik Brücke und (in ihre Abstraktion und Ent-Materialisierung) der Regenbogen immer wieder Symbole der Hoffnung und des Trostes im Strom der Zeit. 

Gemeinsam mit dem ungarischen Projektpartner wird es Aufgabe der nächsten Monate und Jahre sein, das Thema inhaltlich voll zu entfalten und seine mediale Umsetzung überzeugend zu inszenieren. 

Dr. Gerhard Feltl ist Mitglied des Vorstandes der Expo-Vienna AG