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14. Marketing-Tag - Oktober '95
Design = Kommunikation

Gerhard Feltl

Der Versuch, über Design zu referieren, provoziert auch heute noch Mißverständnisse in der Sache selbst. Worthülsen wie Öko-Design, Gastro-Design oder Haar-Design banalisieren die gesellschaftliche Relevanz des Themas. Was von den Kritikern als Füllstoff für Zeitgeist-Magazine abgetan wird, gilt den Design-Protagonisten oft als unabänderliches Dogma. Die Fronten verlaufen quer durch Wirtschaft und Politik. Es ist die alte und doch immer wieder neu gestellte Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen des sogenannten Schönen

Doch selbst in der Design-Community ist das Bewußtsein um die wirtschaftliche Bedeutung von Formgebung und Gestaltung bisweilen mangelhaft. Geformt von der Wertstruktur einer nur sich selbst verpflichteten Kreativität und von Berührungsängsten gegenüber kommerziellen Überlegungen. 

Auf diesem Marketing-Tag will ich jedoch keinen Beitrag zur laufenden Ästhetik-Debatte leisten, sondern einige Überlegungen zur künftigen Funktion von Design präsentieren, die auch für Marketing interessant sein könnten.  

Das Generalthema dieser Tagung ("Die virtuelle Gesellschaft - Auswirkungen auf den Konsumenten, Neue Instrumente im Marketing") ist dafür ein guter Anlaß. Denn Design ist durch die technologischen Entwicklungen auf dem Mediensektor in extremer Weise herausgefordert. 

Als ehrenamtlicher Präsident des Österreichischen Instituts für Formgebung (ÖIF) werde ich selbstverständlich das Thema Design propagieren. In meiner gleichzeitigen Funktion als Geschäftsführer eines Kommunikations-Unternehmens werde ich mich dabei um eine realistische Sicht der Dinge bemühen. 

Das Thema, zu dem ich eingeladen wurde, ist eine gute Gelegenheit, die manchmal widersprüchlichen Argumente zu ordnen. Dafür bin ich den Organisatoren dieses Marketing-Tages dankbar. 

Ich möchte Ihnen also einige Überlegungen zum Stellenwert von Design im Marketing-Mix der Zukunft vortragen - wobei die Kommunikationslandschaft mit den sich abzeichnenden Veränderungen den Hintergrund abgeben wird. Dazu eingangs drei Thesen

1.      Marketing wird sich durch die neuen digitalen und interaktiven Kommunikations-Technologien quantitativ und qualitativ verändern. Diese Veränderungen werden grundlegend und gesamthaft sein. 

2.      In der immer stärker medial vermittelten Welt wird die Gestaltung des Erlebens wichtiger sein als der eigentliche Inhalt des Erlebnisses. Darin liegen neue Herausforderungen und Chancen auch für Design.  

3.      Im "Marketing der Zukunft" wird Design nicht als Formgebung im Produkt-Mix, sondern als Möglichkeit der Strukturierung von Bewußtseins- und Lebensstilen im Kommunikations-Mix an Bedeutung gewinnen. 

Die Frage, ob Design ein Erfolgsfaktor für Marketing ist, ist einfach zu beantworten: selbstverständlich. 

Design ist bereits heute ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor und ein Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg - wenn auch nicht in Österreich. Hierzulande ist Design-Politik durch ein "hartnäckiges Negieren der professionellen Realität" charakterisiert , wie Manfred Wagner kritisch angemerkt hat. Die vorhandenen Mittel werden (nach dem Motto "divide et impera") auf eine Vielzahl unkoordinierter Projekte und konkurrierender Projektwerber aufgeteilt. Perspektiven und langfristige Ziele fehlen. 

Daher ist es in Österreich auch nahezu unbemerkt geblieben, daß das Europäische Parlament bereits Anfang 1994 eine umfassende Design-Initiative gestartet hat. Mit der Begründung, daß die wichtigsten Industrienationen, mit denen die Europäische Union im Wettbewerb steht, über eine "umfassende und sorgfältig organisierte Design-Strategie verfügen". 

Das MITI (Ministry of International Trade and Industry) erklärte das Jahr 1989 zum "Design Year" zur Schaffung eines globalen "japanischen Markenzeichens". Im Rahmen dieser weltweiten Marketing-Aktion wurden 80 Millionen US-Dollar investiert und ein "National Design Day" geschaffen, der jeweils am 1. Oktober d.J. stattfindet. Darüber hinaus wurden internationale Design-Zentren in Tokio, Osaka und Nagoya errichtet. 

Die "asiatischen Tigerländer" Südkorea, Hongkong, Taiwan und Singapur haben sich der japanischen Design-Initiative angeschlossen und gleichfalls nationale Design-Strategien für international verbesserte Marktchancen entwickelt. Das Design-Promotion-Center in Taipei wird mit einem Fünf-Jahres-Budget in Höhe von 125 Millionen US-Dollar gefördert. 

In der spanischen Provinz Katalonien, nach Fläche und Einwohnerzahl durchaus mit Österreich vergleichbar, unterstützt das hochdotierte "Barcelona Centre de Disseny" kleine und mittelständische Unternehmen und realisiert multilaterale Projekte, die im Rahmen von Programmen der Europäischen Union massiv gefördert werden. Dazu hat die spanische Zentralregierung ein ambitioniertes Design-Programm beschlossen, das für den Zeitraum von vier Jahren mit 16 Milliarden Pesetas ausgestattet ist. 

Ähnliche Programme wurden in der Schweiz verwirklicht, wo nach japanischem Vorbild ein "Design-Saturday" und ein "Design-Valley" geschaffen wurden. 

In Dänemark, das in der Tradition des skandinavischen Designs steht, wird Kopenhagen 1996 die Europäische Kulturhauptstadt sein - mit dem Thema "European Design - Design as Identity". 

Es kommt nicht von ungefähr, daß es vor allem kleine Länder und Regionen sind, die sich für dieses Thema engagieren. Gerade kleine Länder brauchen größere Perspektiven. Daraus läßt sich ableiten, daß es Zielsetzung und gleichzeitig Begründung einer modernen Design-Politik sein muß, zeitgemäße Vorstellungen von der eigenen Stärke und Leistungsfähigkeit zu kommunizieren. Das ist eine Marketing-Aufgabe, an der Designer maßgeblich Anteil nehmen sollten. 

Die Design-Branche ist auch ein beachtlicher volkswirtschaftlicher Faktor: im Jahr 1994 wurden in Europa 8,2 Milliarden Ecu an Tantiemen und Honoraren für Design aufgewendet. Allein in Großbritannien erwirtschafteten Designer rund 7 Milliarden DM. 

Betrachtet man die Kulturwirtschaft im Gesamten, so ergibt sich ein eindrucksvoller Befund. Der Wirtschaftswissenschafter Wolfgang Weigel zitiert in einem Artikel, der im Mai 1995 in den "Art News" erschienen ist, ein deutsches Sachverständigengutachten, demzufolge Kunst und Kultur in der Bundesrepublik (einschließlich der vor- und nachgelagerten Bereiche) einen Produktionswert von rund 120 Milliarden Mark erreicht und rund 682.000 Menschen Beschäftigung geboten hat. 

Und Professor Rudolf Schilling, Direktor des Museums und der Hochschule für Gestaltung in Zürich, hat anläßlich eines Vortrages in Wien ein anderes eindrucksvolles Beispiel für die "Rentabilität des Schönen" angeführt: Der Kulturbereich in Berlin beschäftigte im Jahre 1991 rund 45.000 Menschen - etwa 10.000 mehr als der Sektor Banken und Versicherungen. 

Diese Beispiele verdeutlichen, daß Marketing ebenso wie Design für eine Volkswirtschaft ein Innovationsfaktor ersten Ranges sein kann. Vorausgesetzt, daß wir bereit sind, die damit verbundenen Herausforderungen anzunehmen.  

Wenn Marketing die optimale Ausrichtung eines Unternehmens auf seinen Markt bedeutet, dann ist es unverzichtbar zu erkennen, welche Veränderungen durch die neuen Technologien auf uns zukommen werden. Der amerikanische Kulturkritiker Neil Postman macht immer wieder darauf aufmerksam, daß technologischer Wandel nicht nur quantitativ, sondern stets auch im Sinne qualitativer und ökologischer Veränderungen zu verstehen ist. Gewissermaßen ein faustischer Pakt: Gegen jeden technischen Vorteil steht gleichzeitig auch ein inhärenter Nachteil. 

Das gilt für die Wirtschaft insgesamt, das gilt auch für Marketing und Design innerhalb des absatzorientierten Instrumentariums. Im Marketing-Mix wird Design traditioneller Weise als Faktor der Produktpolitik betrachtet. Den Gedanken von Neil Postman folgend glaube ich jedoch, daß Design neben der technischen Qualität und neben der Gebrauchsqualität in Zukunft vor allem auch eine Kommunikationsqualität herzustellen hat. Nämlich das Produkt transparent, verständlich, einsichtig zu machen - was Herkunft, Fertigung, Materialien, Konstruktion und Gebrauch betrifft. 

Als eine seiner ersten Aktionen hat das Österreichische Institut für Formgebung daher unter meiner Präsidentschaft eine Design-Philosophie entwickelt, welche diese grundlegende Veränderung reflektieren soll. Ich zitiere: "Design ist seinem Wesen nach Kommunikation, Verdeutlichung von Ideen, Vermittlung kultureller Inhalte. Im Design können nationale Eigenarten und Identitäten ebenso ihren Ausdruck finden wie globale Symbole als Chiffren einer Weltkultur. Ohne diese lebendige Inhaltskomponente läuft Design Gefahr, zur bloß formalen Imitation zu degenerieren". 

Nach dieser Auffassung erschöpft sich Design nicht bloß in der Formgebung eines Produktes. Design ist vielmehr als Leistung anzusehen, die dem Gebrauch des Produktes Bedeutung verleiht. 

Der französische Designer Phillippe Starck hat dies aus der Motivation abgeleitet, mit der Leute Design-Objekte kaufen, um - ich zitiere - zu "demonstrieren, welchem sozialen Stand sie angehören". In der Mode ist dieser Impuls offensichtlich, ebenso beim Kauf von Autos oder Einrichtungsgegenständen. Wir alle kennen entsprechend gestylte "Bekenner-Wohnungen", "Imponier-Büros" oder "Trost-Objekte" der unterschiedlichsten Art. Diese Phänomene sind auch als kulturelles Bekenntnis zu verstehen, mit dem Menschen Affinitäten ausdrücken, die jenseits objektiv faßbarer Kriterien (wie Materialqualität, Funktionalität oder Preis) anzusiedeln sind. 

Als Schlußfolgerung läßt sich die These aufstellen: Die Aufgabe des Designers ist die vorsätzliche Produktion von Bedeutungen. Der Designer trägt damit auch dem Wertewandel Rechnung - der darin besteht, daß in der postmodernen vernetzten Gesellschaft zur Zweiteilung der Warenwelt (nämlich in Gebrauchswerte und Tauschwerte) der Zeichenwert des Design hinzugekommen ist.  

Anders ausgedrückt: Der Besitz von Produkten signalisiert nicht mehr, was ich haben möchte - sondern wie ich sein will. 

Ich stehe noch unter dem Eindruck der Diskussionsbeiträge zum Thema Design, die ich erst vor einigen Wochen in Taiwan beim Weltkongreß der ICSID miterlebt habe. Dort war die kommunikative und damit bedeutungssetzende Funktion von Design längst gelebte Praxis. Und zwar nicht nur für die Designer und Designwissenschaftler, sondern auch für das Top-Management und die Wirtschaftspolitiker. In der Bewußtseinsbildung in Sachen Design sind uns diese Länder mindestens ein Jahrzehnt voraus, was auch - nebenbei gesagt - ein Schlüssel für den wirtschaftlichen Erfolg dieser Region ist. 

So ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn in diesem Klima der Kreativität bereits die Design-Philosophien von morgen angedacht werden. Es ist der ungelöste Widerspruch postmoderner Gesellschaften zwischen der Fähigkeit, immer bessere Werkzeuge zur Abbildung unserer Welt zu erschaffen, und dem gleichzeitig stattfindenden Zerstörungswerk, welches ständig die Orte und Situationen reduziert, die es überhaupt Wert sind, abgebildet und kommuniziert zu werden. Der Design-Weltkongreß ICSID 1997 in Toronto wird unter diesem Eindruck das Konzept "Human Village" (in Fortschreibung von Marshall McLuhan's "Global Village") thematisieren. Und versuchen, die Brücke zu schlagen zwischen der kommunikativen Funktion und der gesellschaftspolitischen Verantwortung von Design. 

Dabei geht es um nichts weniger als um das Re-Design unseres zivilisatorischen Umfelds. Ich zitiere aus einem vorbereitenden Beitrag für diese Konferenz: "Die Gesellschaft von morgen zu planen ist eine der großen Herausforderungen von heute. Denn das Ziel ist nicht, eine virtuelle Realität zu schaffen, sondern eine reale Realität in einer realen Welt - für Menschen, wie wir in Zukunft auch selbst sein wollen."  

Dabei läuft Design natürlich Gefahr, mehr zu versprechen als es halten kann. Denn trotz der Verheißung von Individualität bleibt Design ein "kollektives Medium". Es kann die Sehnsucht nach dem Unverwechselbaren, dem Einzigartigen zwar wecken - diese aber nicht befriedigen.  

Veränderungen in der Welt der Kommunikation haben immer auch gesellschaftliche Veränderungen ausgelöst. Denken wir an die Erfindung von Buchdruck, Telefon, Radio, Fernsehen oder Computer. Aber auch daran, welche Veränderungen das Kopiergerät oder das Faxgerät in unserem Büroalltag bewirkt haben. 

Jetzt hat die "virtuelle Gesellschaft" Konjunktur und beschäftigt landauf und landab Kommunikationsforscher, Journalisten und Verlagsleute, Medienpolitiker und Kulturkritiker. 

Die diesjährige Ars Electronica in Linz war auf der Suche nach dem "Mythos Information". Der vom Trend-Profil-Verlag veranstaltete "2. Österreichische Medientag" hatte dem Thema mehrere Arbeitskreise gewidmet. Und im Kunsthaus Muerz fragen Experten in einer von der Tageszeitung Standard gesponserten Veranstaltung - zeitlich parallel mit dem Österreichischen Marketingtag - nach der "individuellen Mobilität im dritten Jahrtausend". 

Es ist wohl kein Zufall, daß die Themen Cyberspace und Hyperrealität im Brennpunkt medialer Aufmerksamkeit stehen. Denn die Medien sind von diesen Veränderungen direkt betroffen. Aus Millionen von Quellen aller Art, durch Kabel oder Netz, über Lichtwellen, Luftschwingungen, Telex, über Computer und Telefondrähte, aus Satelliten und Druckereien beziehen wir permanent unübersehbare Mengen an Informationen. Dahinter stehen Mega- bzw. Giga-Daten aller Art - gespeichert auf Papier, Magnetbänder, Disketten, Film oder CD-Rom, die darauf warten, genutzt zu werden. 

Dabei befinden wir uns erst am Anfang der Multimedia-Entwicklung. "Die Definition von online-services, die Definition von Computer und interaktivem TV wird sich grundlegend ändern, die Grenzen werden in den kommenden fünf Jahren verschwimmen", prophezeit Gene DeRose, Präsident der Consulting Firma Jupiter Communications in New York. 

Fernsehgerät, Computer und Spielkonsole sind "morphing" und verschmelzen zu einer Box, die leicht zu bedienen ist und entweder als Karte im PC selbst steckt oder als add-on zum Fernsehgerät angeboten wird und als "elektronisches Fenster zur Welt" dient. 

Das vehemente Interesse der Werbewirtschaft an diesem Thema wird verständlich, wenn man sich die Volumina der angesprochenen Entwicklung verdeutlicht: im Geschäft mit Videospielen werden derzeit in den USA jährlich rund 4 Milliarden US-Dollar umgesetzt, Home-Shopping und Info-Commercials generieren rund 2,8 Milliarden US-Dollar, CD-ROMs etwa 2,5 Milliarden US-Dollar. Das Volumen der kommerziellen Online-Services wird auf rund 795 Millionen US-Dollar, das der interaktiven "800-Nummern" auf etwa 425 Millionen US-Dollar geschätzt. In Internet werden derzeit jährlich rund 366 Millionen US-Dollar umgesetzt, im Bereich von interaktivem TV rund 37 Millionen US-Dollar. 

Die Grenze zwischen Online-Services, Internet und Multimedia wird zunehmend verschwimmen - Videospiele entwickeln sich zu interaktivem TV, CD-ROMs werden zu Online-Services mit Modem-Verbindungen, die ein unmittelbares Update ermöglichen.  

Diese "interaktive Network-Industrie", deren Volumen von der Fachpublikation Advertising Age auf derzeit 11 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, soll bis zum Jahr 1998 auf insgesamt rund 26 Milliarden US-Dollar anwachsen. Die größten Wachstumsraten werden dabei für Internet (von 366 Millionen US-Dollar im Jahr 1994 auf 3.700 Millionen US-Dollar) sowie für interaktives TV (von 37 Millionen US-Dollar im Jahr 1994 auf 4.200 Millionen US-Dollar im Jahr 1998) erwartet. 

Die entscheidende Frage lautet daher nicht, ob die digitale Revolution Marketing, Advertising und Communications verändert. Die Frage lautet vielmehr, in welchem Umfang und wie rasch diese Transformation auf nationaler und internationaler Ebene stattfindet und die Marketing- und Werbestrategien der Unternehmen sowie die gesamte Agenturlandschaft verändert.  

Walter Forbes hat daher auch vollkommen recht, wenn er darauf hinweist, daß sich die Verkaufsumgebung in einer Welt von 85 Millionen verkabelten Haushalten total verändern wird. Vor allem für den Handel werden die Auswirkungen beträchtlich sein. Ich zitiere Forbes: "Auch wenn diese neuen interaktiven Verkaufssysteme nur 5 - 10  Prozent der Umsätze erreichen werden, so schöpft der elektronische Einzelhandel damit bereits die Handelsspanne der meisten Unternehmen ab". 

Was diese Entwicklung für die marktorientierte Kommunikation bedeutet, ist heute kaum abschätzbar. Werbestrategen wie etwa Marc Sasserath von der Werbeagentur BBDO Düsseldorf, sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einer "kommunikativen Katastrophe".  

Aktuelle Studien besagen, daß die Zahl der Fernsehkanäle bis zur Jahrtausendwende auf etwa 500 anwachsen wird. Alljährlich erscheinen mehr als 50.000 neue Buchtitel alleine auf dem deutschen Markt. 41 Millionen Fotos werden jährlich entwickelt. Milliarden Postwurfsendungen in Briefkästen gestopft. Und auch die Zahl der TV-Werbespots hat sich im Zeitraum zwischen 1985 und 1994 verzwanzigfacht. 

Andererseits läßt sich die menschliche Kapazität der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung nicht beliebig steigern. Was bedeutet, daß sich das Zeitbudget für Medienkonsum nicht wesentlich erhöhen wird.  

Wir werden also immer mehr Medien konsumieren, andererseits für die Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften, für Radio und  Fernsehen immer weniger Zeit und geringere Aufmerksamkeit aufwenden. Verbunden mit den jetzt geschaffenen Möglichkeiten zur interaktiven Nutzung von Medien bedeutet dies, daß der "share of voice" für die einzelne Werbebotschaft immer geringer werden wird. 

In Zukunft wird es aber nicht nur zusätzliche elektronische Vertriebswege geben, sondern auch interaktive Werbeformen und damit die Erschließung neuer, heute noch unbekannter Dimensionen des Erlebens.  

Die Wissenschaft der Kybernetik und die Science-Fiction-Literatur hat die Welt des Cyberspace bereits in vielen Facetten beschrieben:  

Bereits 1945 plante der geniale Kybernetiker Vannevar Bush mit seinem MEMEX einen Computer, der durch riesige Datenmengen navigieren konnte. 

William Gibson hat in seinen Werken "Newromancer" und "Biochips" die eindringliche Schilderung von Cyberspace mit Zivilisationskritik verbunden. Und ich erlaube mir an dieser Stelle den Hinweis, daß aus der Lektüre solcher Bücher vielleicht mehr Marketing-Verständnis zu gewinnen ist, als aus so manchem Fachbuch von Universitäts-Instituten. 

Oder nehmen Sie, nach Stunden des Surfens im Internet, Murakami Harukis Roman "Hard boiled Wonderland oder das Ende der Welt" zur Hand - in der die märchenhafte Computerwelt dem Leben im postmodernen Tokio gegenübergestellt wird. Sie werden daraus mehr über virtuelle Welten erfahren, als in den meisten Marketing-Seminaren. 

Die Kommunikationstechnologie beginnt, ein verändertes Bewußtsein von Welterfahrung zu schaffen und damit auch das Konsumverhalten grundlegend zu verändern. Cyberspace und interaktives Multimedia verschärfen, was der Sozialphilosoph Max Horkheimer als den Grundkonflikt des modernen Lebens analysiert hat: sich selbst als Mittelpunkt der Welt zu erleben und dabei zu wissen, daß man in der realen Welt eigentlich "nicht zuhause ist".  

Welche Konsequenzen diese Entwicklung auf die Marketing-Strategien letztendlich haben wird, ist derzeit nicht vorhersagbar. Was wir registrieren und analysieren können, sind erste Trends möglicher Entwicklungen und Transformationen, die mit immer rascherem Tempo ablaufen und sich gegenseitig beeinflussen werden. 

Ein signifikanter Unterschied zum traditionellen Marketing liegt zunächst in der Architektur der Kommunikation: Diese ist nicht mehr linear oder sternförmig organisiert (wie wir es von den klassischen Massenmedien kennen), sondern interaktiv vernetzt. Kommunikation hat nicht mehr einen Ausgangspunkt, sondern unbegrenzt viele. 

In gewisser Weise scheint sich damit die Vision von Berthold Brecht zu erfüllen, der in seiner "Radiotheorie" von einer Kommunikationsform träumte, in der jedermann gleichzeitig Sender und Empfänger von Botschaften sein kann. 

In der Praxis wird jedoch auch bei interaktiven Netzen die Zahl der Anbieter beschränkt bleiben. Die Mehrzahl wird Nutzer sein - mit grundsätzlich unbegrenzten Möglichkeiten zur Selektion, technisch interaktiv, aber dennoch lediglich Botschaften empfangend. Mehr Interaktivität bedeutet bewußteres Auswählen und strategisches Konsumieren. Es wird das Bestreben fördern, das beste aus den eigenen Möglichkeiten zu machen - aber nach den jeweiligen individuellen Maßstäben. 

Das bedeutet, daß wir zwar neue Marketing-Instrumente haben müssen, daß die Ziele aber die alten bleiben. Nach wie vor gilt es,  

    starke Markenidentitäten aufzubauen

    konsumrelevante Märkte zu schaffen bzw. zu erschließen

    und vor allem eine emotionale Bindung zwischen Verbraucher und Marke herzustellen. 

Der Konsument von morgen wird Produkte und Marken permanent auf persönliche Relevanz und daraufhin überprüfen, ob sie mit seinem Lebenskonzept übereinstimmen oder nicht. 

Das funktioniert heute bereits in Subkulturen. Nehmen wir als Beispiel das Life-Style-Konzept der "Grunge-Slackers", wie sie Douglas Couplands in seinem Kultroman "Generation X" beschrieben hat. In dieser Subkultur existiert ein enger Zusammenhang von Haltung, Grundeinstellung und Bekleidung, deren Botschaft sich etwa durch die Musik der Gruppe "Nirvana" manifestiert - Lebenseinstellung, Musik, Kleidung und Ausdrucksform sind zu einer in sich stimmigen Einheit geworden. 

Und noch immer gilt auch für Marketing der visionäre Satz von Antoine de Saint-Exupéry "Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer". 

In diesem Gedanken drückt sich die sozialpsychologisch fundierte Erkenntnis aus, daß jedes erklärbare Verhalten von einer emotional gefaßten Idee gesteuert wird. Man könnte auch sagen: Von einem Lebenskonzept. 

Ich habe eingangs in meiner dritten These behauptet, daß sich Design als Möglichkeit der Strukturierung von Bewußtseins-Stilen und Lebens-Stilen durchsetzen wird. Ich gehe dabei nicht so weit wie der deutsche Design-Philosoph Wolfgang Welsch, der das "Jahrhundert des Designs" auf uns zukommen sieht. Ein Jahrhundert, in dem Design die Rolle einer "existentiellen ästhetischen Weltaneignung" zukommt, wo Produktgestaltung zur Lebensgestaltung wird. 

Ich bin bescheidener. Und sage, daß sich durch die neuen Technologien der gesamte Marketing-Mix verändern wird. Und damit auch die Funktion von Design im Kontext von Marketing. 

In den deutschsprechenden Kulturen neigen wir dazu, den Begriff Design als reine Gestaltung der Oberfläche, als Tätigkeit der Formgebung zu verstehen. Ursprünglich bedeutet "disegno" in der Kunsttheorie der Renaissance jedoch "die Zeichnung" - die abstrakte Idee, welche der Künstler aus den Phänomenen der Natur entwickelt. Dies ist eine viel umfassendere Auffassung von Design, die heute noch im angelsächsischen Raum vorherrscht. Dort bedeutet Design auch die Konzeption, die Planung, die Ordnung eines Prozesses. 

Ich habe an anderer Stelle meiner Ausführungen Design als vorsätzliche Produktion von Bedeutung definiert. Der japanische Designer Kazuo Kawasaki meint, das Geheimnis von gutem Design liege darin, daß es eine unverwechselbare Botschaft transportiere. 

Das ist derselbe Gedankengang. Der Gebrauch von Produkten, die in diesem Sinne gestaltet sind, sind Teil eines Lebenskonzeptes. Sie stehen mit diesem in Wechselwirkung. Sie sind sein Ausdruck und zugleich seine Bestätigung. 

Darin, und nicht bloß in einer rein funktionellen oder zeitgeistig verhafteten Form, liegt die Zukunft von Design. 

Udo Koppelmann, Professor für Betriebswirtschaftslehre in Köln, sieht die Herausforderungen an Design darin, daß sich der Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen in den Augen der Nachfragenden auf neue Weise profilieren muß. Und er stellt dazu vier Thesen auf: 

1. Nur das, was der Nachfrager an Leistungen bemerkt, ist wettbewerbsrelevant.  

2. Nur das, was in den Augen des Nachfragers auch morgen wichtig ist, wirkt profilierend. 

3. Nur das, was dem Nachfrager gegenüber dem Konkurrenzprodukt vorteilhaft erscheint, ist wettbewerbsbedeutsam. 

4. Diese Bedeutungs-Zuordnung wird emotional erfolgen. 

Damit wird deutlich, daß unternehmensspezifische Design-Konzepte im Mittelpunkt solcher profilierenden Emotions-Strategien stehen werden. Und daß der wirtschaftliche Erfolg von Unternehmen zunehmend von attraktiven Design-Lösungen beeinflußt, ja entschieden werden wird. 

Design wird sich dabei zur Gestaltung von Rezeptionsvorgängen, Arbeitsprozessen und Kommunikations-Architekturen weiterentwickeln müssen. Zur Formung von immateriellen Phänomenen, welche für den Erlebnischarakter und für den Erlebniswert von Bedeutung sind - weil sie bestimmen, in welcher Weise wir Botschaften wahrnehmen und verarbeiten.

Bereits heute bestimmt - um ein Beispiel zu nennen - Design und Layout einer Zeitschrift auch die Art, wie wir deren Inhalte wahrnehmen. Die Ausstattung eines Filmes (im Englischen übrigens: Set-Design) bestimmt seinen Erlebniswert ebenso wie die Handlung oder die Leistungen der Schauspieler. Corporate-Design eines Unternehmens bestimmt die Produktivität, den Erfolg und die Zufriedenheit der Arbeitnehmer. Gestatten Sie mir als letztes Beispiel den Hinweis auf den Sieben-Milliarden-Dollar-Markt der Videospiele: Die Betriebssoftware wird immer schneller, der dramaturgische Ablauf der meisten Spiele bleibt jedoch gleich. Was den Erfolg ausmacht, ist Design - nichts anderes. 

Wenn wir die Möglichkeiten von Design im "Marketing der Zukunft" ausschöpfen wollen, werden wir diesen Aspekt weitaus stärker beachten müssen als bisher. Dazu bedarf es beharrlicher Überzeugungsarbeit. Dennoch sollten wir uns in einer Welt, in der die rasche Rendite und der kurzfristige Erfolg zählen, an die alte Erfahrung erinnern, daß die Zukunft nicht erobert, sondern nur erschlossen werden kann. 

Das gilt für Design, aber auch für Marketing. Eine behutsame, wenngleich konsequente Annäherung an die "interaktive Zukunft" könnte für Design und Marketing gleichermaßen die richtige Erfolgsstrategie sein.

10/95 - Dr. Gerhard Feltl ist Präsident des Österreichischen Institut für Formgebung (ÖIF)