Themen > Design > Eröffnungsstatement zur Ausstellung "Norm und Form"

Gerhard Feltl

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Festgäste!

Herr Professor Korinek hat es in seiner Funktion als Präsident des Österreichischen Normungsinstitutes übernommen, Überlegungen zum Thema Design zu formulieren: Ich darf für seine profunden Ausführungen sehr herzlich danken. Mir wurde hingegen der Part zugedacht, etwas über die Tätigkeit des Normenschaffens zu sagen. 

Ich habe diesem Rollentausch gerne zugestimmt – als eine willkommene Gelegenheit, mir selbst Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Norm und Form bewußt zu machen. 

Natürlich leben wir alle – ob wir es wollen oder nicht – in einer genormten Welt. In den Augen des Laien erscheint manches davon bisweilen übertrieben. Doch niemand wird ernsthaft die Notwendigkeit von Normen bestreiten wollen. Denken wir nur an die Systeme der Datenübertragung. Nachdem ich viele Jahre lang Mitarbeiter der IBM war, ist dieses Thema für mich nach wie vor von großem Interesse: Nach aktuellen Studien gibt es heute weltweit ca. 200 Millionen Computer. Bis zur Jahrtausendwende wird sich diese Zahl vervielfacht haben. Und gegenwärtig werden Jahr für Jahr etwa 3,5 Milliarden Mikroprozessoren hergestellt, in diverse Anwendungen eingebaut, zunehmend auch vernetzt und miteinander kommunikationstauglich gemacht. Unser gesamtes Lebens- und Gesellschaftssystem ist damit komplex, zum Teil unüberschaubar geworden. 

Die einzige wirkungsvolle Gegenstrategie ist – mit den Worten von Niklas Luhmann – die "Reduktion von Komplexität". Und damit die Schaffung von Strukturen. Ohne international anerkannte Normen würde das totale Chaos herrschen. 

Normung ist also eine gesellschaftlich notwendige Tätigkeit. Sie zielt auf die "einmalige bestimmte Lösung einer sich wiederholenden Aufgabe unter den gegebenen wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten". Diese Definition stammt, wie Sie wissen, von Otto Kienzle, dem Mitbegründer des Deutschen Instituts für Normung (DIN).  

Mir gefällt diese Definition von Kienzle sehr gut, denn sie könnte in mancherlei Hinsicht ebenso gut für Design zutreffen. Auch der Designer sucht nach der einmaligen und bestimmten Lösung einer bestimmten Aufgabe. Und auch der Designer muß die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten bei der Suche nach dieser Lösung berücksichtigen. Und da alles gestaltet ist, kann auch alles genormt werden. 

Beides sind im Wesentlichen sinnlich nicht wahrnehmbare Tätigkeiten. Denn Design ist mehr Idee als sichtbare Form. Und Norm ist mehr Regelwerk als Ausführung.  

"Die Bausteine der Umwelt sind weder die Menschen noch die Dinge, sondern die unsichtbaren Regeln der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse", hat der von mir bereits zitierte Lucius Burckhardt einmal apodiktisch formuliert. Und hinzugefügt: "Design ist unsichtbar". 

Das trifft wohl auch auf das Normschaffen zu. Und ein Vierteljahrhundert nach dem visionären Statement des Kulturphilosophen und Design-Theoretikers Lucius Burckhardt hat denn auch die Harvard-Professorin Moss-Kantor einen Paradigmen-Wechsel des Wirtschaftens festgestellt, nach dem die "Weltklasse" eines Unternehmens in Zukunft nicht mehr auf den traditionellen Kriterien Ausstattung, Technologie oder Personal beruht, sondern sich aus den immateriellen Ressourcen concepts, competence and connections zusammensetzen wird. 

Design ist in diesem Zusammenhang zweifellos ein Schlüsselfaktor – aber nur dann, wenn Design ganzheitlich verstanden wird. Wenn es gelingt, die Entwicklungs- und Erneuerungsprozesse in die Gesamtheit der wirtschaftlichen Vorgänge eines Unternehmens zu integrieren. 

Andererseits muß uns bewußt sein, daß sich die gesellschaftliche Funktion von Norm und Form in sehr unterschiedlicher Weise im Selbstverständnis von Designern und Normungsexperten darstellt: Die Tätigkeit des Normenschaffens erscheint mir als ein Versuch, die ständig wachsende Komplexität der Welt auf ein überschaubares und bewältigbares Ausmaß zu reduzieren. Der Designer hingegen trägt mit seiner Tätigkeit zur Vermehrung dieser Komplexität bei, indem er die Vielfalt der Formenwelt ständig vermehrt. 

Ich kann mir daher gut vorstellen, daß sich ein Normungs-Experte manchmal wie Sysiphus vorkommt, dem der Designer ständig neue Gebilde vorsetzt, die er unermüdlich den Berg hinaufrollen, sprich: in sein Regelwerk integrieren muß. 

Und so mancher Designer wird im Gegensatz dazu die Normen als Einengung seiner Kreativität empfinden. Und mit Walter Benjamin beklagen, daß das von ihm geschaffene Werk Gefahr läuft, unter den Anforderungen der Normenwelt seine Aura, seine Einmaligkeit zu verlieren. 

Zwischen Norm und Form besteht daher ein natürliches Spannungsverhältnis. Gleichzeitig bedingen Norm und Form einander: Was nicht gestaltet wurde, kann nicht genormt werden. Und was nicht genormt ist, kann wiederum im industriellen Produktionsprozeß nicht gestaltet und auch nicht hergestellt werden. 

Design ist somit Differenzierung. Norm ist hingegen Vereinheitlichung, die wiederum neue Möglichkeiten der Differenzierung schafft. 

Anläßlich des 75-jährigen Bestehens des Österreichischen Normungsinstitutes hat Bundespräsident Dr. Thomas Klestil in seiner Festrede darauf hingewiesen, daß es "Ziel der Normen wäre, den Einzelnen von Routine zu entlasten und Platz zu machen für noch mehr Kreativität und Effizienz". 

Aus diesem Grund ist es auch für den Prozeß der Formgebung vernünftig, ja unverzichtbar, Normen zu akzeptieren. Andererseits wirkt Design wiederum auf den Prozeß des Normenschaffens zurück, indem es neue Fragen aufwirft und neue Gesichtspunkte einbringt. 

Zwischen Norm und Form muß es daher einen engen Dialog geben. Das Österreichische Institut für Formgebung als Plattform der Design-Community steht als Ansprechpartner dafür gerne zur Verfügung. Diesen Dialog erfolgreich zu gestalten, ist eine gemeinsame Aufgabe von Normungsexperten und Designern – zum Nutzen für unsere Wirtschaft und zur Positionierung unseres Landes im internationalen Wettbewerb in Europa und in der Welt.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 

Ausstellung "Norm und Form", 9. Oktober 1997 – Dr. Gerhard Feltl ist Geschäftsführer des Kommunikationskonzerns IWG-Holding und Präsident des Österreichischen Instituts für Formgebung (ÖIF).