Themen > Kommunikation > Chaos Control

Gerhard Feltl

Aus der Fülle der Vorhersagen von Trendgurus, Analytikern und Apokalyptikern zur Entwicklung der Medienlandschaft läßt sich derzeit nur eines sicher ableiten: Die neuen Kommunikations- und Computertechnologien werden nicht nur unsere Medienlandschaft, sondern unsere gesamten Lebensbedingungen verändern. Auch wenn das manchen in unsere Branche nicht passt: wir steuern auf eine Welt zu, wie sie Alvin Toffler in seine Buch "The Third Wave" skizziert hat, dominiert von einem Kommunikationssystem, das sich von den klassischen Medien fundamental unterscheiden wird. In welcher Weise und mit welchen Folgen dies geschehen wird, darüber läßt sich in Anlehnung an den legendären Helmut Qualtinger nur sagen: "Ich weiß nicht, wo ich hinwill, aber dafür bin ich schneller dort". 
 
Durch die rasant weiterlaufende Verschmelzung von Informatik und Telekommunikation werden heute völlig neue Grundlagen für die gesellschaftliche Weiterentwicklung geschaffen. Die totale und technisch nahezu perfekte Verfügbarkeit von Informationen aller Art beeinflußt alle Bereiche der Gesellschaft. Nicht nur die Güterproduktion, sondern auch die alltäglichen Dienstleistungen müssen mehr und mehr auf individuelle Kundenanforderungen zugeschnitten werden. Daneben verlieren die klassischen Massenmedien zunehmend an Bedeutung; es entsteht eine Vielzahl individueller Kommunikationskanäle, die immer weniger überschaubar und inhaltlich kaum mehr kontrollierbar werden. 
Die Vergangenheit hat gezeigt, daß kein neues Medium die jeweils bestehenden verdrängen konnte. Der Buchdruck nicht die direkte Kommunikation, das Radio nicht Print, das Fernsehen nicht den Hörfunk, Video nicht das Fernsehen. Denn jedes neue Medium konnte etwas, was alle alten nicht konnten: Informationen auf Papier speichern (die Zeitung und das Buch), Sprache und Musik übermitteln (das Radio), dann bewegte Bilder (der Film und das Fernsehen) und diese dann speichern (das Video). Die alten Medien existierten weiter, weil mit jeder neuen Technologie die Kommunikation um eine Dimension erweitert wurde.  
 
Multimedia und das Netz des Cyberspace werden diese Entwicklung aber auf den Kopf stellen, weil sie die Kommunikationsmöglichkeiten nicht nur um eine neue Dimension erweitern, sondern gleichzeitig auch alles können, was alle bestehenden Medien zusammen ausmacht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kommunikation gibt es für jedes existierende Medium eine technologisch überlegene Alternative, die noch dazu strukturell ganz anders funktioniert, als die klassischen Medien: dezentral organisiert und individuell nutzbar, unabhängig von Zeit und Raum. 
 
Nach Sherry Turkle vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), einer der führenden Anthropologinnen des Cyberspace befinden wir uns heute in einem "liminal moment", einem Grenzabschnitt in der Entwicklung unsere Gesellschaft, in dem die alte Kommunikationsstruktur nur mehr bruchstückhaft besteht und die neue Ordnung noch nicht errichtet ist. Solche Momente sind Augenblicke größter kultureller Kreativität, in denen alles mit neuen Bedeutungen angefüllt wird. Das verspricht spannungsvolle Zeiten, die auch extreme Reaktionen hervorbringen können: reflexhaftes Festhalten am Althergebrachten, obwohl diese Strukturen keine Antworten auf neue Herausforderungen geben können. Höchstens die trügerische Sicherheit, dem vermeintlichen Chaos mit rückwärtsgewandtem Denken Einhalt gebieten zu können. 
 
Für unsere Branche wäre eine solche Strategie allerdings fatal. Denn in einer Zeit, wo sogar Billa schon "an morgen denkt", brauchen wir für "Chaos control" und die Lösung der Probleme von morgen schon heute die Strategien von übermorgen.

Artikel für Extradienst